KANN MAN DANN NOCH DARIN SURFEN ODER GEHT MAN UNTER – OB MAN WILL ODER NICHT ?
Lernpsychologie und Erlernen epileptischer Anfallsmuster : Epileptische Anfallsmuster sind das Ergebnis von Lern- und Bahnungsprozessen
„Cells that fire together, wire together“(D.O. Hebb 1949)
Zellen, die gemeinsam „feuern“, verdrahten sich auch
Das synchrone und hochfrequente „Feuerwerk“ eines epileptischen Anfalls hinterlässt zweifellos Spuren im Gehirn. Die dadurch veränderten oder neu gebildeten Schaltkreise sind untrennbar mit neuem Verhalten und Erleben verbunden. Dass solche (unbewußt ablaufenden) Lernprozesse im Zusammenhang mit epileptischen Anfällen stattfinden, dafür gibt es eine Fülle von medizinischen und psychologischen Indizien – nicht nur für die Bahnung weiterer Anfälle, sondern überhaupt für die Ausbildung eines komplexen epileptischen Verhaltens- und Erlebensmusters.
Lernprozesse spielen genauso eine zentrale Rolle beim Abbrechen und Verhüten von Anfällen mit psychologischen Mitteln. Die meisten Menschen wissen, dass einmal Gelerntes auch wieder verlernt, umgelernt oder ganz durch neu Gelerntes ersetzt werden kann.
Erfreulicherweise können die Betroffenen das gelernte epileptische Muster, selbst wenn es über viele Jahre chronifiziert ist, mit einer Fülle von psychologischen Methoden systematisch so verändern, dass sie z.B. keine Grand Mals mehr bekommen oder/und andere Anfälle schnell und unauffällig stoppen können.
Nachfolgend erfahren Sie mehr zum Erlernen epileptischer Anfallsmuster.
Das Thema „Erlernen epileptischer Anfallsmuster“ ist deswegen so wichtig, weil es zu einer erweiterten Sichtweise und einem besseren Verständnis von epileptischen Anfällen führt.
Wir sind uns durchaus bewusst, dass diese Sichtweise von Epilepsie als Lern- und „Trainings“-Prozess keineswegs selbstverständlich ist, denn auch wir hatten ursprünglich entsprechend der Sichtweise unserer Fachärzte den Eintritt eines Grand Mals im Verlauf einer dramatischen Verschlimmerung von fokaler Symptomatik für das Ergebnis eines unbeeinflussbaren neurophysiologischen Automatismus gehalten.
Unsere Erfahrung, dass man ein Grand Mal sogar noch in letzter Sekunde verhüten kann, zeigte uns, dass es bei epileptischen Anfällen mehr Gestaltungsmöglichkeiten gibt, als nur mit Medikamenten den „epileptogenen Mechanismen“ entgegenzuwirken. Solche Gestaltungsmöglichkeiten werden spätestens in dem Moment besonders wichtig, wenn die Medikamente nicht oder nicht zufriedenstellend helfen, wenn man nicht anfallsfrei wird und das Risiko weiterer Grand-Mal-Anfälle besteht, wenn sich die Anfälle vielleicht noch verschlimmern, falls man zusätzlich zu den Medikamenten nichts dagegen unternimmt.
Mit unserem Erleben, Gedächtnis und Lernen verändern wir unser Gehirn pausenlos
Wir brauchen nicht die Hirnforschung zu bemühen, denn aus unserer Lebenserfahrung wissen wir alle : was wir tun und noch mehr, wenn wir es öfter tun, hat Auswirkungen auf uns und damit auch auf unser Gehirn. Wenn wir etwas tun, dann machen wir damit bestimmte Erfahrungen und manchmal reichen schon eine einzige Erfahrung oder zwei, drei Versuche aus, dass wir gelernt haben, etwas zu können. Jeder hat schon mindestens ein solches Erlebnis gehabt – nicht nur der sprichwörtliche Mensch, der ins kalte Wasser geworfen wurde und von da an schwimmen konnte. Was war es z.B. bei Ihnen, was Sie nur ein, zwei, drei Mal taten und ab da konnten Sie es einfach? Einen Papierflieger basteln? Fahrradfahren? Einen Kuchen backen?
Das, was wir öfters tun, das geht immer leichter, wir können es immer besser, schneller und müheloser. Und wenn wir zwei, drei oder viele Dinge hintereinander oder gleichzeitig tun, dann können wir das nach und nach immer besser, selbst, wenn wir anfangs große Schwierigkeiten damit hatten. So lernen wir so einfache oder komplizierte Dinge, wie uns die Zähne zu putzen, Geige zu spielen oder ein Segelflugzeug zu fliegen. Wir haben damit nicht nur Verhaltensweisen und Fähigkeiten gelernt, sondern darüber hinaus gleichzeitig sehr komplexe Muster des Erlebens (z.B. Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen) in uns gespeichert.
Wir lernen nicht nur irgendwelche Dinge zu tun, sondern wir lernen auch selber zu denken (auch völlig neuartige Gedanken), unsere Wahrnehmung zu schärfen, Gefühle zu fühlen (auch solche, die wir bislang nicht kannten), Entscheidungen zu treffen und an diesen konsequent festzuhalten. Wir lernen somit auch, unseren Willen zu gebrauchen.
Nicht nur alles, was wir lernen, sondern überhaupt alles, was wir erleben, hinterlässt Spuren in unserem Gehirn, ganz egal, ob wir etwas wahrnehmen, denken, fühlen oder ob wir handeln. Mit jedem neuen Abrufen des Erlebten vertiefen sich diese Spuren und es werden sogenannte Bahnungen geschaffen. Diese Bahnungen müssen uns keineswegs bewusst sein, sie funktionieren auch ohne unser willentliches Zutun, also unwillkürlich und dies so schnell, dass wir es normalerweise nicht einmal bemerken. Allerdings können wir unsere Wahrnehmung soweit schärfen, dass uns solche Prozesse nicht mehr verborgen bleiben.
Wenn es solche Spuren nicht gäbe, könnten wir uns an nichts erinnern und wir könnten auch nichts lernen, denn wenn man etwas lernen will, muss man es sich merken können. Unser Erleben und unser Gedächtnis und Lernen stehen in einer ständigen wechselseitigen Beziehung zueinander und unser Gehirn verändert sich dadurch ständig. Es gibt keine Pause dabei. Die gibt es erst, wenn wir tot sind. (Dass ein Gehirn irgendwann im Leben „fertig“ ausgereift ist und von da an nur noch abbaut, ist mittlerweile anerkanntermaßen ein Märchen aus der Medizin des vergangenen Jahrhunderts).
Unser gesamtes Erleben hat sogar einen so starken Einfluss auf unser Gehirn, dass es bereits ausreicht, sich irgendetwas, z.B. den Biss in eine Zitrone, vorzustellen und das Gehirn erzeugt daraufhin dieselben neurophysiologischen Prozesse wie wenn wir es mit einer realen Zitrone zu tun hätten. Das geht bis hin zu wahrnehmbaren körperlichen Reaktionen, z.B. dass uns bei der bloßen Vorstellung das Wasser im Mund zusammenläuft. Selbstverständlich kann man mit den modernen bildgebenden Verfahren der Hirnforschung auch die neurophysiologischen Prozesse wahrnehmbar machen. Es ist wenig bekannt und man muß sich das erst mal klar machen : Unser Gehirn unterscheidet nicht zwischen Phantasie und Realität!
Was hat das alles mit epileptischen Anfällen zu tun?
Epileptische Anfälle gehören zweifellos zu den intensivsten Aktivitäten unseres Gehirns und dem entspricht natürlich auch ein spezielles Erleben. Dazu zählen Elemente wie das gesamte Anfallsgeschehen von den anfallsbegünstigenden Bedingungen, den eventuellen Vorzeichen, den Erwartungen und Gefühlen aufgrund der Vorzeichen, den Auslösern, den verschiedenen Phasen des Anfalls selbst (auch, wenn viele Betroffene diese nur teilweise bewusst erleben) bis hin zu den Auswirkungen der Anfälle, die wiederum Erwartungen nach sich ziehen, die für zukünftige Anfälle bedeutsam sind. Mit den Anfällen gekoppelt ist eine Vielfalt an Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühlszuständen, Stimmungen, Verhaltensweisen, körperlichen Reaktionen. Die Beziehungen zu anderen Menschen und der soziale Kontext gehören hier ebenfalls dazu. Dieses Anfallsmuster in seiner Gesamtheit ist nicht chaotisch und zufällig, sondern es hat System. Und, wie auch sonst in unserem Alltag, ist uns vieles von diesen Vorgängen gar nicht bewusst.
Wie bei jedem anderen Lernprozess auch, beginnt sich ein solches epileptisches Muster bereits mit dem ersten Anfall zu bilden und entwickelt sich dann mit jedem Anfall weiter.
Damit wird im Gehirn ein komplexes Netz aus neuronalen Verschaltungen und synaptischen Verbindungen gebildet (bzw. ausgebaut oder umstrukturiert, falls Teile davon schon vorher existiert haben). Es entsteht also nach und nach ein neues Netz aus Nervenverbindungen. Je öfter eine Nervenverbindung genutzt wird, umso besser funktioniert sie und umso stabiler wird sie. Es ist wie mit einem Pfad durch den Wald. Je öfter dort Menschen gehen, desto fester wird der Boden und desto breiter wird der Pfad, so dass man immer besser und schneller durch den Wald kommt.
Jedes Mal, wenn ein Anfall auftritt, werden die Nervenverbindungen in dem neuronalen Netz genutzt. Und je öfter die Anfälle auftreten, desto stabiler werden diese Nervenverbindungen und die daraus resultierenden Reaktionen (Anfälle). Wir sind hier nicht nur in der Neurophysiologie sondern zugleich mitten im Kerngebiet der Psychologie. Denn wir haben es hier mit Lernprozessen zu tun. Diese wurden und werden von der experimentellen Psychologie seit 130 Jahren erforscht und die Ergebnisse mit Erfolg angewandt. Die Flexibilität unseres Denkorgans ist auf der Ebene psychologischer Prozesse also schon lange vor der biologischen Hirnforschung bekannt gewesen und dieses Wissen kommt längst in jeder psychologischen Beratung/Unterstützung zum Einsatz.
Wenn die Anfälle dauerhaft ausbleiben, dann werden die Verbindungen nicht mehr genutzt. Um auf das Beispiel mit dem Pfad durch den Wald zurück zu kommen : Wird der Pfad nicht mehr benutzt, z.B., weil in der Nähe ein schönerer Weg angelegt wurde, dann wird er nach und nach von Pflanzen überwuchert und verschwindet schließlich mehr oder weniger (könnte aber jederzeit wieder neu genutzt werden).
Wenn die Anfälle dauerhaft ausbleiben und die Verbindungen nicht mehr genutzt werden, dann funktionieren diese bald nicht mehr richtig. Dann verändert sich das neuronale Netz mit seinen Verschaltungen in der Richtung, dass Anfälle nicht mehr so leicht auftreten können, z.B., weil Auslöser ihre Wirkung verloren haben, weil sich die epilepsietypischen Entladungen nicht mehr so leicht über das Gehirn ausbreiten können, weil sich die Erwartungen in Bezug auf zukünftige Anfälle verändert haben oder weil sich die Angst vor Anfällen verringert hat und damit ein Risikofaktor für Anfälle weniger wirksam geworden ist. Wir haben es hier mit den lernpsychologischen Prozessen des Verlernens, Neulernens oder/und Vergessens zu tun.
Der Neurologe Rumi (2006) bezeichnet in einem kurzen Überblick über die Neurophysiologie epileptischer Anfälle die dabei auftretenden Lernprozesse als „pathologischen Lernprozess“. Dieser führt dazu, dass bei Anfällen die (synaptische) Überleitung verbessert wird, neue Neuronenschaltkreise gebildet und bestehende Schaltkreise inaktiviert werden. Entdeckt wurde diese synaptische Plastizität von dem Psychologen D.O. Hebb (1949). In den neuen Schaltkreisen werden die epileptischen Entladungen mit jedem Anfall immer besser übertragen.
Damit ist der Weg frei für die Vernetzung dieser „epileptogenen Schaltkreise“ mit anderen neuronalen Netzen im Gehirn, z.B. mit denjenigen, in denen das Erleben und Erlernen von Vorzeichen für Anfälle, Erwartungen, Auslösern, Tendenzen zur Generalisierung sowie die psychischen Auswirkungen der Anfälle gespeichert sind. Diese Muster werden bei ihrer Aktivierung abgerufen. Auch dies erfolgt nach dem Prinzip der „Hebb’schen Plastizität“ : „Cells that fire together wire together“ (Zellen, die gemeinsam „feuern“, vernetzen sich auch).
Dies hier ist also die Schnittstelle zwischen Medizin und Psychologie : die körperliche Seite der Epilepsie trifft auf das Erleben und Verhalten eines individuellen Menschen.
Wir bezeichnen das Ganze als Lernen epileptischer Muster.
Unter epileptischen Mustern verstehen wir die Gesamtheit der Lebensprozesse im Zusammenhang mit epileptischen Anfällen. Solche Muster bestehen, wie oben bereits beschrieben, aus einer Vielzahl von Elementen des Erlebens. Beispiele dafür sind : anfallsbegünstigende Bedingungen, Vorzeichen und die nachfolgenden Erwartungen, Anfallsauslöser, Erleben des „eigentlichen“ Anfalls, Auswirkungen der Anfälle. All dieses besteht aus einer Vielfalt an Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühlszuständen, Stimmungen, Verhaltensweisen, körperlichen Reaktionen, Art und Inhalt der Kommunikation mit anderen Menschen. Alle Musterelemente sind miteinander verwoben, d.h., sie stehen in vielfältigsten Wechselwirkungen zueinander. Und natürlich zählen auch die gesamten neurophysiologischen Prozesse dazu. Diese Muster existieren und wirken auch (dann sogar besonders gut!), wenn sie einem Menschen in keinster Weise bewusst sind. Welche Musterelemente bei welchem Menschen den besonderen Ausschlag geben, ist ein wesentlicher Teil der Detektivarbeit, die wir zusammen mit unseren Klienten für die Anfallsprophylaxe zu tun haben. Unsere Beobachtungen zeigen, dass erfreulicherweise auch Klienten, die anfänglich rein gar nichts über die Begleitumstände ihrer Anfälle gewusst haben, mit einer gewissen Übung (und natürlich auch mit neugierigem Interesse für sich selbst) es lernen können, ihre individuellen Musterelemente und deren Zusammenhänge zu erkennen und für ihre Anfallsverhütung zu nutzen.
Eine Vielzahl von Indizien sprechen für das Erlernen epileptischer Muster
Dass solche Muster erlernt werden, dafür sprechen bekannte neurophysiologische Phänomene wie z.B. der „Spiegelfokus“. Bei wiederholten fokalen Anfällen über einen längeren Zeitraum kann (spiegelbildlich) auf der gegenüberliegenden Seite des Gehirns ein zweiter epileptischer Herd (Fokus) entstehen. Dieser zweite Fokus kann unabhängig von dem ersten Fokus epileptische Entladungen und epileptische Anfälle erzeugen.
Für Lernprozesse spricht des Weiteren, dass eine medikamentöse Behandlung umso weniger Erfolgsaussicht hat, je länger eine Epilepsie schon vor Behandlungsbeginn bestanden hat und je mehr Anfälle aufgetreten sind. Es ist belegt, dass die Therapiechancen einer Epilepsie umso größer sind, je früher die Behandlung beginnt (Schmidt, 2006).
Das Erlernen epileptischer Muster dürfte auch erklären, warum sich die Therapiechancen drastisch verschlechtern, wenn erstmalig aufgetretene kleine Anfälle (wie Absencen oder komplex-fokale Anfälle) nicht sofort behandelt werden und dann nach einiger Zeit große Anfälle hinzukommen (Schmidt, 2006).
Auch das Rückfallrisiko nach Absetzen der Medikamente nimmt mit der Zahl der Anfälle vor und während der Behandlung insgesamt zu. Selbst nach längerer Anfallsfreiheit ist das Risiko, erneut Anfälle zu bekommen, bei Betroffenen umso höher, je mehr Anfälle sie bis zur Erreichung der Anfallsfreiheit bekommen haben.
Gelernte epileptische Muster können offenbar auch noch nach langer Anfallsfreiheit reaktiviert werden. Dazu ein dramatisches Erlebnis eines unserer Klienten. Der Klient, der ausschließlich Grand Mal-Anfälle hatte, die klinisch diagnostiziert waren als neurologisch belegte Grand-Mal-Anfälle, war mehr als 15 Jahre anfallsfrei gewesen. Eines Tages sah er im Fernsehen einen Filmbericht über einen Jungen, der in einem epileptischen Anfall in ein offenes Feuer gefallen und seither entstellt war. Der Bericht ging unserem Klienten sehr nahe und er dachte an seine eigenen Anfälle zurück. Eine Stunde später bekam er einen Grand Mal-Anfall mit Sturz auf den Fußboden. – dies nach einer so langen Zeit der Anfallsfreiheit! Natürlich dürfte nicht in allen Fällen einer erneuten Aktivierung der Anfälle das auslösende Ereignis so offensichtlich sein. Jeder Mensch weiß, dass einmal Gelerntes nie wieder ganz vergessen wird. Unter entsprechenden Bedingungen kann es wieder aktiviert werden.
Für das Lernen epileptischer Muster sprechen überdies eine ganze Reihe verhaltenstherapeutischer Erfolge. So konnten Geruchshalluzinationen an visuelle Reize gekoppelt werden, wodurch es einer Epilepsie-Betroffenen möglich wurde, dass sie nur an ihr Armband denken musste, um einen fokalen Anfall in einem frühen Stadium abzubrechen (zit. nach Heinen und Schmid-Schönbein 1999).
Bei sogenannten „Reflexepilepsien“, bei denen Anfälle durch bestimmte Reize reflexartig ausgelöst werden, konnte eine Habituierung oder Desensibilisierung gegenüber den Anfallsauslösern erreicht werden, so dass der Reflex schließlich gelöscht wurde (d.h. dass der Reflex keine Anfälle mehr auslöste) (zit. nach Heinen und Schmid-Schönbein 1999). Auch hier sind verhaltens- bzw. lernpsychologische Methoden wirksam.
Nicht zuletzt zeigen die Ergebnisse von Heinen und Schmid-Schönbein (1999) bei der Verhaltenstherapie zur Selbstkontrolle epileptischer Anfälle, dass es psychologische Gestaltungsmöglichkeiten in die vom Klienten gewünschte Richtung bei den unterschiedlichsten Epilepsieformen (d.h. für unterschiedlichste körperliche Befunde, Anfallstypen und Altersgruppen) gibt.
Alle diese Beobachtungen sprechen dafür, dass Lernprozesse das Risiko zukünftiger Anfälle vergrößern. Aber eben auch umgekehrt, dass Neulernprozesse, die fachlich kompetent begleitet werden, das Anfallsrisiko vermindern können, d.h. die Zahl und Schwere der Anfälle verringern bis hin zur Anfallsfreiheit.
Wie hoch ist das Risiko zukünftiger epileptischer Anfälle nach einem ersten (unprovozierten) Anfall?
Betrachtet man die verschiedensten Epilepsien zusammen genommen, dann beträgt das Risiko, nach einem erstmals aufgetretenen unprovozierten Anfall innerhalb von 5 Jahren einen zweiten unprovozierten Anfall zu bekommen, lediglich 33%, d.h. lediglich ein Drittel der Menschen mit einem ersten unprovozierten Anfall bekommt einen zweiten Anfall (Hauser et al. 1998)
Das Risiko, nach dem zweiten unprovozierten Anfall einen dritten unprovozierten Anfall zu bekommen, ist bereits sehr viel höher. Es beträgt nach Hauser et al. 73%, d.h. knapp drei Viertel der Betroffenen mit zwei unprovozierten Anfällen bekommen einen dritten Anfall.
Das Risiko, nach dem dritten unprovozierten Anfall einen vierten Anfall und weitere Anfälle zu bekommen, ist ähnlich hoch. Es beträgt 76%, d.h. ca. drei Viertel der Betroffenen mit drei (erstmaligen) unprovozierten Anfällen bekommen einen vierten Anfall.
Hier stellt sich die Frage : wodurch unterscheiden sich Menschen, die lediglich einen oder zwei unprovozierte epileptische Anfälle bekommen von denjenigen Menschen, die drei, vier oder mehr Anfälle bekommen? Haben sie z.B. massivere Hirnschädigungen, als diejenigen, bei denen es bei einem oder zwei Anfällen bleibt?
Wenn man bedenkt, dass es bei 95% aller Hirnschädigungen überhaupt zu keiner Epilepsie, also zu keinen wiederholten (chronischen) Anfällen kommt, könnte man auf den Gedanken kommen, dass Hirnschädigungen vielleicht gar keine so ausschließliche Rolle bei der Entwicklung einer Epilepsie (d.h. der Entwicklung chronischer Anfälle) spielen, als man gemeinhin annimmt.
Wie oben schon festgehalten : solche Überlegungen beruhen auf statistischen Auswertungen, d.h. sie gelten nur für die verschiedensten Epilepsien zusammen genommen. Für einzelne Epilepsien könnte das ganz anders aussehen.
Wenn Hirnverletzungen vielleicht gar keine so ausschließliche Rolle bei der Entwicklung chronischer Anfälle spielen, dann muss es noch andere Ursachen geben, die stärker ins Gewicht fallen, als üblicherweise vermutet wird. Darunter könnten gerade diejenigen Lernprozesse fallen, die sowohl im lernpsychologischen als auch im neurophysiologischen Modell als wichtiger Faktor bei der Chronifizierung (dem fortgesetzten Auftreten) epileptischer Anfälle gesehen werden und für die auch die zahlreichen oben berichteten Indizien sprechen. Damit verbinden sich medizinisches und psychologisches Denken zu einem gemeinsamen Modell.
Zwei Risikofaktoren bei der Chronifizierung epileptischer Anfälle
Wir wollen hier zwischen zwei Risikofaktoren unterscheiden, mit denen wir es hier zu tun haben. Der eine Risikofaktor resultiert aus der Art und Schwere organischer Ursachen. Medizinisch sind heute viele organische Ursachen bekannt, in deren Folge Epilepsien auftreten können. Solche Ursachen findet man allerdings lediglich bei 35% bis 50% der Betroffenen (zit. nach Schmitz, 2008 und Schmidt, 2006). Bei 50% bis 65% der Fälle findet man also mit den derzeitigen Methoden keinerlei Ursachen. Darüber hinaus beschreibt aber die organische Ursache, sofern man überhaupt eine findet, lediglich eine Disposition (erhöhte Bereitschaft, erhöhtes Risiko) für epileptische Anfälle. Die Art und Schwere des Anfalls selbst kann auf die organischen Ursachen zurückwirken (z.B. zusätzliche Schädigung des Gehirns).
Der zweite Risikofaktor resultiert aus den oben beschriebenen Lernprozessen. Die Medizin kann bei epileptischen Anfällen den einzelnen unprovozierten Anfall weder vorhersagen noch erklären noch verhindern. Das spricht stark für einen nichtmedizinischen Risikofaktor. Er ergibt sich aus dem oben bereits dargestellten komplexen epileptischen Muster, d.h. dem gesamten Anfallserleben mit seinen bewussten wie auch vorbewussten Elementen.
Wie viel tragen Lernprozesse zum Risiko zukünftiger Anfälle bei?
Der Beitrag von Lernprozessen zum Risiko zukünftiger Anfälle ist schwer abzuschätzen. Warum ist das so? Wir haben es, wie erwähnt, nicht nur mit einer einzigen Ursache zu tun, sondern mit mehreren oder sogar vielen Ursachen, die sich noch dazu gegenseitig beeinflussen und auch auf sich selbst zurückwirken. Aus diesem Ursachengeflecht resultieren die oben genannten beiden Risikofaktoren. Nennen wir sie mal „Hirnschädigung“ und „Erlernen epileptischer Muster“ (kurz : Lernprozesse). Kein Mensch kann das zugrundeliegende System der Ursachen mit seinen Einzelanteilen, Wechsel- und Rückwirkungen durchschauen.
Man kann aber zumindest etwas erfahren über den Beitrag des Risikofaktors „Hirnschädigung“ beim Auftritt wiederholter epileptischer Anfälle.
Hierzu haben die oben schon genannten Autoren (Hauser et al. 1998) die Risiken zukünftiger Anfälle verglichen zwischen Menschen mit dokumentierter Hirnschädigung und Menschen ohne dokumentierte Hirnschädigung.
In Kliniken für Neurologie und Epileptologie, EEG-Abteilungen u.a. wurden aus 1157 Menschen mit neu identifizierten Anfällen anhand rigoroser Kriterien 204 Betroffene ausgewählt, die einen tatsächlich von Augenzeugen dokumentierten (aller)ersten unprovozierten Anfall in ihrem Leben hatten.
Bei rund 30% (59 von 204) der Menschen in dieser Studie waren Hirnschädigungen dokumentiert, die als Ursachen für epileptische Anfällen bekannt sind (dieser Anteil entspricht knapp dem Vorkommen solcher Krankheiten bei Epilepsie-Betroffenen, wie in Schmitz, 2008 angegeben).
Bei rund 70% (145 von 204) waren keine Hirnschädigungen dokumentiert.
Anschließend wurde der weitere Verlauf der epileptischen Anfälle bei den 204 Betroffenen bis zu 9 Jahre lang weiter verfolgt (die Studie war prospektiv). Danach wurden die Anfallsrisiken für die beiden Gruppen (mit Hirnschädigung bzw. ohne Hirnschädigung) ermittelt :
Für die Betroffenen beider Gruppen mit einem ersten Anfall (alle Betroffenen) wurden die Risiken für einen zweiten Anfall ermittelt.
Für die Betroffenen mit zwei Anfällen wurden die Risiken für einen dritten Anfall ermittelt.
Für die Betroffenen mit drei Anfällen wurden die Risiken für einen vierten und mehr Anfälle ermittelt.
Die Autoren der Studie hatten die Hypothese, dass die Anfallsrisiken in der Gruppe mit Hirnschädigung deutlich höher sein würden, als in der Gruppe ohne Hirnschädigung.
Sie erhielten folgende Ergebnisse :
Gruppe |
Erster |
Risiko für einen |
Risiko für einen |
Risiko für einen |
Alle Betroffenen mit einem ersten unprovozierten Anfall |
204 |
33% |
73% |
76% |
Betroffene mit dokumentierter Hirnschädigung |
59 |
44% |
87% |
76% |
Betroffene ohne dokumentierte Hirnschädigung |
145 |
26% |
64% |
76% |
Die Tabelle zeigt, dass die Betroffenen mit Hirnschädigung tatsächlich ein höheres Risiko für einen zweiten Anfall haben, und zwar 44% gegenüber einem Risiko von 26% der Betroffenen ohne Hirnschädigung.
Noch größer ist der Unterschied bei dem Risiko für einen dritten Anfall. Die Betroffenen mit Hirnschädigung haben ein Risiko von 87% für einen dritten Anfall, gegenüber einem Risiko von 64% der Betroffenen ohne Hirnschädigung (Irrtumswahrscheinlichkeit p=0.05, Relatives Risiko 1.9; 95%-Konfidenzintervall 1.0 – 3.4).
Dieser Unterschied weist auch darauf hin, dass sich die beiden Gruppen tatsächlich unterscheiden. Das Argument, man habe in der Gruppe ohne dokumentierte Hirnschädigung eine vorhandene Schädigung lediglich nicht gefunden, ist angesichts der Ergebnisse nicht plausibel.
Das Risiko für einen vierten Anfall (und möglicherweise weiterer zukünftiger Anfälle) beträgt überraschenderweise in beiden Gruppen mit und ohne erkennbare körperliche Ursachen 76%. Die Autoren folgern daraus, dass aus der Tatsache, ob eine Hirnschädigung vorliegt oder nicht vorliegt, keineswegs vorhergesagt werden kann, ob nach einem dritten Anfall weitere Anfälle auftreten oder nicht.
Für die Chronifizierung ab dem dritten Anfall spielt es keine Rolle mehr, ob ein körperlicher Befund vorliegt
Wenn jemand mehr als drei epileptische Anfälle bekommt, dann kann man die Anfälle sicherlich als chronisch bezeichnen. Im Klartext bedeutet das Ergebnis der Studie von Hauser et al., dass das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer körperlichen Ursache ohne Bedeutung dafür ist, ob epileptische Anfälle chronisch werden oder nicht, wenn bereits drei Anfälle aufgetreten sind.
Zusammenfassend stellen die Autoren der Studie fest, dass dieses Ergebnis (neuro)physiologisch nicht erklärbar ist.
Was folgt aus der Studie von Hauser et al. im Hinblick auf die Frage, in welchem Ausmaß Lernprozesse zum Risiko zukünftiger Anfälle beitragen könnten?
Wenn das Ergebnis nicht physiologisch erklärt werden kann, wie kann es dann erklärt werden?
Wenn man aufgrund des Vorhandenseins/Nichtvorhandenseins einer körperlichen Ursache nicht vorhersagen kann, ob sich nach drei epileptischen Anfällen eine „richtige“ Epilepsie entwickelt oder nicht (d.h., ob die Anfälle chronisch werden oder nicht), dann müssen weitere oder andere Einflußfaktoren in Betracht gezogen werden. Solche Einflußfaktoren werden auch als Prädiktoren bezeichnet, wenn es darum geht, eine bessere Vorhersage ermöglichen.
Was spricht für Lernprozesse? Lernprozesse basieren auf Wiederholung. Epileptische Anfälle müssen wiederholt auftreten. Einzelne epileptische Anfälle erleiden sehr viele Menschen (ca. 4%-5% der Gesamtbevölkerung). Bei den meisten Menschen reicht das offensichtlich nicht aus, eine Epilepsie zu entwickeln.
Bei bestimmten Schädigungen des Gehirns besteht ein höheres Risiko, einen zweiten und dritten Anfall zu entwickeln. Das zeigt die Studie von Hauser et al. sehr deutlich.
Aber auch Menschen mit nicht erkennbaren Schädigungen des Gehirns bekommen einen zweiten und dritten Anfall, allerdings mit viel niedrigerem Risiko. Bei den meisten dieser Betroffenen bleibt es bei einem einzigen Anfall. Wenige bekommen einen zweiten Anfall und dann ist Schluss. Nur sehr wenige bekommen auch einen dritten Anfall.
Beim dritten Anfall scheint etwas einzutreten, worin sich Menschen mit und ohne nachgewiesene Hirnschädigung ähneln, denn jetzt plötzlich unterscheiden sie sich nicht mehr, was das Risiko für weitere Anfälle betrifft, also dem Risiko für eine Chronifizierung der Anfälle.
Es scheint so, dass erst nach drei Anfällen etwas entwickelt worden ist, was weitere Anfälle begünstigt. Dies kann man als Anzeichen dafür nehmen, dass nach dem dritten Anfall diejenigen epileptischen Muster erlernt worden sind, die dann abgerufen werden, wenn bestimmte anfallsauslösende und anfallsfördernde Bedingungen eintreten und wenn der Anfall „ins Rollen kommt“.
All das passt sehr gut zu den bereits aufgeführten Indizien für das Lernen epileptischer Muster :
Die epileptischen Entladungen werden mit jedem Anfall immer besser übertragen.
Durch epileptische Anfälle werden im Gehirn Schaltkreise verändert und neu gebildet.
Die „epileptogenen Schaltkreise“ vernetzen sich mit anderen neuronalen Netzen im Gehirn, z.B. mit denjenigen, in denen das Erleben und Erlernen von Vorzeichen für Anfälle, Erwartungen, Auslösern, Tendenzen zur Generalisierung sowie die psychischen Auswirkungen der Anfälle gespeichert sind. Diese Muster werden bei ihrer Aktivierung abgerufen.
Bei wiederholten fokalen Anfällen über einen längeren Zeitraum kann (spiegelbildlich) auf der gegenüberliegenden Seite des Gehirns ein zweiter epileptischer Herd (Fokus) entstehen („Spiegelfokus“).
Eine medikamentöse Behandlung hat umso weniger Erfolgsaussicht, je länger eine Epilepsie schon vor Behandlungsbeginn bestanden hat und je mehr Anfälle aufgetreten sind.
Die Therapiechancen verschlechtern sich drastisch, wenn erstmalig aufgetretene kleine Anfälle (wie Absencen oder komplex-fokale Anfälle) nicht sofort behandelt werden und dann nach einiger Zeit große Anfälle hinzukommen.
Das Rückfallrisiko nach Absetzen der Medikamente nimmt mit der Zahl der Anfälle vor und während der Behandlung insgesamt zu.
Nach längerer Anfallsfreiheit ist das Risiko, erneut Anfälle zu bekommen, bei Betroffenen umso höher, je mehr Anfälle sie bis zur Erreichung der Anfallsfreiheit bekommen haben.
Offenbar können gelernte epileptische Muster selbst nach über 15 Jahren Anfallsfreiheit immer noch durch rein psychologische Auslöser reaktiviert werden.
Für das Lernen epileptischer Muster wie auch für das Neulernen anfallsvermindernder und anfallsverhütender Muster spricht nicht zuletzt eine große Reihe verhaltenstherapeutischer Erfolge zur Anfallskontrolle und Anfallsverhütung.
Mit der Studie von Hauser et al. (1998) haben wir einen weiteren Hinweis für das Lernen epileptischer Muster. Und aus dieser Studie erhalten wir sogar einen Anhaltspunkt dafür, wie viele „Lernversuche“, d.h. Anfälle, notwendig sind, um das Eintreten weiterer Anfälle zu begünstigen – notwendig scheinen drei Anfälle zu sein. Das bedeutet : die kritische Schwelle scheint bei drei Anfällen zu liegen.
Wie viele andere Mediziner (vgl. Fröscher 2004, 490) fordern auch Hauser et al. eine Behandlung mit Antiepileptika ab dem zweiten unprovozierten Anfall.
Unsere Schlussfolgerung
Wenn die Betroffenen mit Medikamenten nicht anfallsfrei werden, dann sollten möglichst bald psychologische Methoden in Betracht gezogen werden. Denn spätestens dann haben wir es auch mit gelernten epileptischen Mustern zu tun, d.h. die epileptischen Anfälle sind nun mit einer Vielzahl von Elementen des Erlebens und Verhaltens zu einem hoch komplexen individuellen Muster verwoben. Wir bezeichnen das als epileptisches Muster. Mit psychologischen Mitteln gibt es eine Fülle von Möglichkeiten, Elemente dieses Musters systematisch zu verändern. Es genügen oft wenige gezielte Änderungen, denn da alle Teile des Musters in Wechselwirkung zueinander stehen, wird automatisch das gesamte Muster verändert.
Unsere Erfahrungen zeigen, dass trotz einer eingetretenen Medikamentenresistenz sich die Anfallsmuster sogar noch nach einer langen Vorgeschichte mit vielen Anfällen in gewünschter Weise verändern lassen, bis hin zur völligen Anfallsfreiheit. Die psychologischen Methoden der Anfallsverhütung sind allerdings immer noch zu wenig bekannt, obwohl ihre Wirksamkeit auch von medizinischer Seite anerkannt wird. Erforderlich ist meist keineswegs, wie öfters behauptet wird, eine langwierige Psychotherapie oder ein zeitaufwändiges Training. Ganz im Gegenteil : Unsere Erfahrungen zeigen, dass ein kurztherapeutisches Vorgehen durchaus möglich ist, da unsere Klienten vieles auch in eigener Regie für sich tun können.
Lesen Sie mehr über Anfallsverhütung mit psychologischen Mitteln auf unseren Seiten „Chancen und Ziele unseres Coachings bei Epilepsie“ und „Unsere Arbeitsweise“